Éva Fahidi-Pusztai, geboren 1925 in Debrecen (Ungarn), ist im Mai 1944 als Jüdin von den Nationalsozialisten über Auschwitz in das Buchenwalder Frauenaußenlager Stadtallendorf verschleppt worden. Dort musste sie Zwangsarbeit in der Rüstungsproduktion leisten. Nach ihrer Befreiung kehrte sie nach Ungarn zurück und lebt heute in Budapest. Sie vertritt Ungarn im Internationalen Komitee Buchenwald, Dora und Kommandos. Ihre Verfolgungs- und Überlebenserfahrung hat sie 2011 unter dem Titel „Die Seele der Dinge“ veröffentlicht und auch im Medium des Tanztheaters verarbeitet. Éva Fahidi-Pusztai hätte ihre Rede im Rahmen des Gedenkaktes im Deutschen Nationaltheater am 5. April 2020 gehalten.
Liebe Kameraden!
sehr haben wir uns auf den 75. Jahrestag unserer Befreiung in Buchenwald vorbereitet und gewartet. Seit vielen Jahren sind wir schon gekommen, erst noch über zwanzig Personen aus einem Land, Männer und Frauen separat, dann kleinere/größere Gruppen. Später sind auch unsere Enkelkinder mit uns gekommen, weil es uns sehr wichtig war, dass sie das sehen und dass sie sich ein besseres Leben aufbauen, als wir es konnten. Und Jahre lang waren wir immer zahlreich vor Ort, freuten uns über das Treffen und das Leben, und die Gedenkstätte an unserem ehemaligen Lager Buchenwald hat sich um uns gekümmert: Alle bekamen, was sie benötigten, haben da Augengläser und Hörgeräte erhalten und vor allem die immer menschenwürdige Ansprache und Stimme, an die wir uns gerne gewöhnt haben.
Meine Erfahrung, auf die ich mich immer so gerne berufe, sagt mir, dass wir diese heutige Virus-Situation sehr ernst zu nehmen haben. Wir sitzen da, eingesperrt, unsere Kinder lassen uns nicht hinaus, sie versorgen uns. Die Rollen haben sich verändert, wir müssen gehorsam sein und wir sind damit zufrieden. Auf einmal haben wir so viel Zeit. Auf einmal haben wir für alles Zeit. Wir wachen auf, und ich muss Bandi sagen, wie verliebt ich in ihn bin und wie glücklich, dass ich ihn gefunden habe. Die Zeiten wiederholen sich, die Zeiten, als man uns eingesperrt hat, haben wir überlebt, jetzt sperren wir uns freiwillig ein, und mein Sohn Gergely, der Zellbiologe an der McGill Universität in Montréal ist, schreibt mir, es könnte noch Monate dauern. Wir müssen geduldig sein und wir sind zufrieden.
Liebe Kameraden! Ich habe noch das Gefühl, Eure Hand in meiner zu halten. Wir werden uns noch treffen, alle auf einmal, auf dem großen Appellplatz, und das Lied, unser Lied, wird erklingen, und wir werden alle zusammen dabei sein, und bis dahin lassen wir uns den Mut nicht rauben, denn wir tragen den Willen zum Leben im Blut und im Herzen den Glauben, wie in unserem Buchenwaldlied.
Erst war ich noch unsicher, ich wusste nicht, was ich zu tun habe. Und dann, auf einmal, wurde mir klar: Kleine Feuer muss ich zünden, überall muss ich sie hinschicken, damit niemand Kälte fühlt. Mir ist es kalt, seit dem ersten Appell auf dem Appellplatz in Birkenau am 02. Juli 1944, in der Morgendämmerung, als ich noch nicht wusste, dass ich genauso angekleidet auch im Dezember auf dem Appellplatz stehen werde, nur in Hessen in Deutschland, in Allendorf, wo es im Winter kalt ist, wenn man keine warme Kleidung anhat. Aber gegen Erfrieren genügte, wenn man an die warmen Höschen mit Spitze und Monogramm dachte, die Mutti einem gegeben hat, an dieses Gefühl von Zuhause und Wärme. So ist das mit den Dingen, die von Mutti kommen, auch heute noch, man muss nur an sie denken. Hedy Bohm hat einmal in einem Interview gesagt: Wenn sie während des Holocausts ratlos war und nicht wusste, was sie tun sollte, dachte sie daran, was ihre Mutter in derselben Situation täte, und tat dann das. So ist das mit den Dingen, die von Mutti kommen, man denkt an sie auch Jahrzehnte später, und noch immer findet man Hilfe in ihnen. Wenn einem die Lieder einfallen, die man als Kind gesungen hat, ist man wieder zu Hause, man läuft die 13 Stiegen hinauf, macht die Tür von der Diele auf, und es riecht nach denaturiertem Alkohol und Harz, womit die Dielen geschrubbt wurden. Und dann kommt mein Zimmer, mit dem mächtigen Schrank, voll mit Puppen und Spielzeugen. Ich bin ein verwöhntes Kind, aber ich muss meine Sachen in Ordnung halten und immer, wenn ich gespielt habe, sie in den Schrank zurückräumen. Ich muss deshalb meine wertvolle Zeit, wovon ich so wenig habe, nicht damit vergeuden, dass ich Ordnung mache. Für ein Leben hat mir meine Mutti gelehrt, dass Ordnung nie gemacht wird, man hält einfach immer Ordnung, so dass nicht viel Mühe und viel Zeit darauf verschwendet werden soll. Ich konnte das meinen Kindern nicht beibringen. Es wundert mich nur, dass sie in dieser chaotischen Unordnung, die sie umgibt, meist doch finden, was sie brauchen.
Über sehr wichtige Sachen wollte ich schreiben, weil wir auf einmal in außerordentliche Zeiten geraten sind und es sehr wichtig geworden ist, dass jeder Mensch sich wohlfühlt und gut versorgt ist und tatsächlich die notwendige Aufmerksamkeit seiner Umgebung erhält. Das Gute, das man in jedem Bösen finden kann, besteht darin, dass wir Menschen uns wiederentdecken. Wir können wieder etwas für uns tun, uns gegenseitig helfen, uns miteinander amüsieren, skypen, vorlesen und zeigen, dass uns der andere wichtig ist. Dann kriegt man gute Laune, und lustig und gut gelaunt überlebt man sogar Krisen leichter. Mir kann man glauben. Ich habe eine große Erfahrung.
Mit viel Liebe
Eure
Éva Fahidi-Pusztai
Budapest, Ungarn