Alle Menschen
sind frei und
gleich
an Würde und
Rechten geboren.

Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 1948, Artikel 1

11. April 2020 – 75. Jahrestag
der Befreiung der Konzentrationslager
Buchenwald und Mittelbau-Dora

Reden

die anlässlich der 75. Jahrestage der Befreiung
der KZ Buchenwald und Mittelbau-Dora
nicht gehalten werden konnten

Naftali Fürst, geboren 1932 in Bratislava (Slowakei), ist als Zwölfjähriger zusammen mit seinen Eltern und seinem Bruder Shmuel als Jude von den Nationalsozialisten über das Vernichtungslager Auschwitz in das KZ Buchenwald verschleppt worden. Heute lebt er in Haifa (Israel) und ist Vorsitzender des Häftlingsbeirates KZ Buchenwald. Seine Lebensgeschichte hat er unter dem Titel „Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens“ erstmals 2008 veröffentlicht. Naftali Fürst hätte seine Rede im Rahmen des Gedenkaktes im Deutschen Nationaltheater am 5. April 2020 gehalten.

Liebe Freunde,

Corona, Corona, was hast Du uns angetan! 

Wir wollten uns treffen, gedenken und uns erinnern, und wir wollten uns freuen. Wir wollten sagen, wir sind da, trotz der Vorhersage von Jorge Semprún, der zum Jahrestag 2005 sagte: In zehn Jahren „wird es keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis, das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein.” Das war 2005, zum 60. Jahrestag der Befreiung. Lasst uns gemeinsam feiern, dass er sich getäuscht hat. Wegen der weltweiten Epidemie ist es leider unmöglich, dass wir zusammenkommen. 

In diesem Jahr wurden die letzten Überlebenden zur Gedenkfeier eingeladen. Wegen ihres hohen Alters und ihres Gesundheitszustandes konnten nicht alle zusagen. 

Vor 75 Jahren war ich ein zwölfjähriger Junge, der im Konzentrationslager Buchenwald befreit wurde. Ich kam aus Auschwitz - nach einem Todesmarsch und einem Transport im offenen Waggon bei einer Kälte von minus 25 Grad Celsius. Es war der 23. Januar 1945. 

Ich bin für mein großes Glück dankbar. Ich bedanke mich bei allen mutigen Männern dafür, dass sie 21.000 Häftlinge, die nur noch Haut und Knochen waren, darunter ca. 900 Kinder, befreiten. 

Oft werde ich gefragt, wie ich die drei Jahre in den Todeslagern überleben konnte. Das frage ich mich auch selbst des Öfteren. Gewöhnlich antworte ich: meine Erziehung von Zuhause, Überlebenswille, Ausdauer. Und ich kann noch einen weiteren Grund anführen: Ich war mit meinem zwei Jahre älteren Bruder Shmuel zusammen. Selig sei sein Andenken. 

Nach Auschwitz bedeutete Buchenwald für uns einen wichtigen Wandel, ganz vorsichtig gesagt, zum Besseren. Das ist natürlich alles eine Sache der Verhältnismäßigkeit. Bereits beim Eintritt in die Desinfektionskammer und als wir trockene Kleidung erhielten, beruhigten uns die alteingesessenen Häftlinge und sagten uns: „Hier ist nicht Auschwitz.“  

Wir blieben einige Tage in einer Baracke für erwachsene Häftlinge, danach wurden wir in Block 66 – den Kinderblock – im Kleinen Lager am anderen Ende des Lagers gebracht. 

Dies ist vielleicht meine letzte Gelegenheit, mich bei den Mitgliedern der Widerstandsorganisation des Lagers Buchenwald zu bedanken (politische Häftlinge wie die Kommunisten, Franzosen, Deutsche, Holländer, Juden und andere). 

Sie fassten den Beschluss, die letzten überlebenden Kinder, die die Lager in Polen und die Todesmärsche überlebt hatten und nach und nach in Gruppen oder einzeln in Zügen nach Buchenwald kamen, zu retten.  

Unter Initiative von Jack Werber, Antonin Kalina und weiteren Widerstandskämpfern wurde der Kinder-Block geschaffen. Der Blockälteste war Antonin Kalina. Er ist posthum mit als „Gerechter unter den Völkern“ von der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem geehrt worden für seinen Beitrag zur Rettung der ca. 900 jüdischen Kinder, darunter mein Bruder und ich. 

Im Block 66 herrschte eine konstruktive Atmosphäre. Die verantwortlichen erwachsenen Häftlinge, darunter Jindřich Flusser und Gustav Schiller, sorgten dafür. 

Nach einigen Monaten verschlechterte sich mein Gesundheitszustand so, dass ich im Sterben lag. Auf Initiative von Antonin Kalina und mithilfe meines Bruders wurde ich in das Krankenrevier des Lagers verlegt mit der Hoffnung, gerettet zu werden. Es ist meine letzte Gelegenheit, mich bei einem eine Brille tragenden polnischen Häftling zu bedanken, der dort neben mir lag, an dessen Namen ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Er nahm mich in seine Obhut und gab mir Hoffnung und Kraft, weiter um mein Leben zu kämpfen. Zu meiner Überraschung wurde ich nach einigen Tagen gemeinsam mit anderen Kranken in das Lagerbordell verlegt. Ich staunte über den dort herrschenden Luxus und über die schönen und gepflegten Frauen. 

Seit Jahren hatten meine Augen solche Schönheiten nicht gesehen. Ich fühlte mich wie im Garten Eden. Ich wurde umarmt, mir wurde herzlich zugeredet, und ich wurde professionell medizinisch untersucht. Ich erhielt ein besseres Essen, sogar Schokolade!!!

Ich nutze die Gelegenheit, mich bei den wunderbaren Frauen, die ebenfalls Lagerhäftlinge waren und die an diesem Ort tätig sein mussten, zu bedanken. Sie haben mich aufopferungsvoll gepflegt und mein Leben gerettet. Selig sei ihr Andenken. Ich wurde im Lagerbordell befreit. Es war der 11. April 1945, gegen Mittag. Auf dem Appellplatz waren Schüsse und Freudenrufe zu hören. Die Häftlinge verließen ihre Baracken und vertrieben die SS-Männer aus dem Lager. 

Buchenwald wurde von den Häftlingen, den Mitgliedern der starken Widerstandsorganisation, die seit 1937, also seit Errichtung des Lagers, dort existierte, aus eigener Kraft befreit. Die Alliierten, Soldaten der III. US Armee von General Patton, erreichten Buchenwald. Um 15.15 Uhr war das Lager offiziell befreit. 

2005, sechzig Jahre danach, kehrte ich zum ersten Mal nach Deutschland und ins ehemalige Konzentrationslager Buchenwald zurück. Es war ein außergewöhnlich starkes Erlebnis. Mich bewegten sehr gemischte Gefühle. Trauer mischte sich in Freude, dass mir das Glück zum Überleben zuteil geworden war. Ich traf Freunde, frühere Häftlinge. Ich lernte das große und engagierte Team von Menschen kennen, die mit viel Fürsorge, Wissen und Hingabe in der Gedenkstätte arbeiten. Ihnen ist der Kontakt mit den ehemaligen Häftlingen wichtig. Deswegen treffen wir uns jährlich zum Jahrestag der Befreiung. Ihre Aufgabe ist es, die Dokumente und Artefakte der vergangenen Zeit im Lager zu sammeln und aufzubewahren. 

Die Gedenkstättenleitung kümmert sich um die Bewahrung und Vermittlung des Wissens über die Geschehnisse in Buchenwald und seinen Außenlagern in den Jahren von 1937  bis 1945. All dies mit dem Ziel, die Erinnerung zu bewahren und nicht zu vergessen. In der Tat besuchen die Gedenkstätte Delegationen aus der ganzen Welt, Schüler und Einzelbesucher. 

Zum Schluss möchte ich mich bei allen Buchenwald-Mitarbeiterinnen und -Mitarbeitern bedanken, zuerst bei ihrer Leitung Prof. Volkhard Knigge, Rikola-Gunnar Lüttgenau und Dr. Philipp Neumann-Thein, bei den Historikern, den Pädagogen, den Archivmitarbeitern, den Restauratoren, bei allen, die in der Vergangenheit in der Gedenkstätte gewirkt haben und die auch weiterhin in ihr tätig sind, die ihre Zeit und ihre Tatkraft für dieses hehre Ziel einsetzen. 

Großer Dank an das Internationale Komitee der Buchenwald-Häftlinge, das uns vertritt und uns zusammenbringt. 

Ein besonderer Dank an die Thüringer Landesregierung, die in der Vergangenheit die Gedenkarbeit im ehemaligen Lager Buchenwald in jeder Hinsicht unterstützte und weiterhin unterstützt. 

Hier möchte ich die Gelegenheit nutzen, dem Ministerpräsidenten Bodo Ramelow persönlich zu seiner Neuwahl zu beglückwünschen. 

Ihr Erfolg ist unser Erfolg. 

Naftali Fürst
Haifa, Israel

Naftali Fürst bei der Eröffnung der neuen Dauerausstellung zur Geschichte des KZ Buchenwald, 15. April 2016

נאום בעברית

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