Ivan Ivanji, geboren 1929 im damals jugoslawischen Banat, ist, nachdem seine Eltern in Belgrad von den Nationalsozialisten ermordet worden waren, im März 1944 als Jude nach Auschwitz und Buchenwald verschleppt worden. Befreit wurde er im Außenlager Langenstein-Zwieberge. Heute lebt er als Schriftsteller und Publizist in Belgrad. Seine Lebensgeschichte ist unter dem Titel „Mein schönes Leben in der Hölle“ 2014 erschienen. Ivan Ivanji hätte seine Rede im Rahmen des Gedenkaktes im Deutschen Nationaltheater am 5. April 2020 gehalten.
Das Außenkommando des Konzentrationslagers Buchenwald Langenstein-Zwieberge war in das große und das kleine Lager unterteilt. Im großen Lager waren etwa 6.000 Häftlinge, die Tunnel im nahen Berg bauen mussten. In denen sollten „Vergeltungswaffen“ hergestellt werden. Im kleinen Lager befanden sich 869 Häftlinge, die als schwerer ersetzbare Facharbeiter galten und die deshalb etwas besser verpflegt und behandelt wurden. Am 9. April 1945 stellte die SS eine Kolonne von 2.500 Häftlingen zusammen, die aus dem Lager in Richtung Westen getrieben wurden. Es wurde ein Todesmarsch. Die im Lager Verbliebenen mussten nicht mehr zur Arbeit. Es wurde jedoch keine Verpflegung mehr ausgeteilt. Insbesondere im großen Lager starben Menschen an Hunger und Erschöpfung.
Am 11. April sind am Abend die Scheinwerfer nicht mehr eingeschaltet worden und auf einmal verbreitete sich die Kunde, die SS sei weg. Das Lagertor war halb geöffnet. Sonst geschah noch nichts. Das große Sterben setzte sich fort. Ich musste mitten in der Nacht die Latrine aufsuchen. Etwas stand mir in der Dunkelheit im Wege. Ich stieß das Hindernis mit dem Fuß im Holzschuh beiseite und bemerkte, dass ich den Kopf einer Leiche getreten hatte. Und ich dachte, eines Tages wirst du dich wundern, dass du den Kopf eines toten Mithäftlings mit den Fuß getreten hast. Ja, ich denke noch immer an diesen Augenblick. Aber wundere ich mich? Soll ich diesen Schrecken, diesen Abscheu mit „sich wundern“ bezeichnen?
Mehr nicht in diese Richtung. An dem großen Wettbewerb, wer besser wehklagen, gräulicher seine Leiden beschreiben kann, will ich nicht teilnehmen. Sprechen möchte ich über die Befreiung, den Sieg, die Freiheit und die Fallen, die sie uns stellen.
Die überlebenden Häftlinge im Stammlager Buchenwald haben am 19. April 1945 einen Schwur geleistet. Obwohl ich nicht dort war, fühle ich mich diesem Schwur verpflichtet. Ein wesentlicher Satz des Schwurs lautete:
„Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.“
Haben wir diesen Schwur eingehalten? Ich glaube, das haben wir nicht. Bundespräsident Steinmeier hat jüngst in Jerusalem gesagt, ich zitiere:
„Ich wünschte sagen zu können, wir Deutschen haben für immer aus der Geschichte gelernt. Aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten“. Damit hat Bundespräsident Steinmeier bestätigt, dass weder die Vernichtung des Nazismus, noch der Aufbau einer Welt des Friedens und der Freiheit gelungen sind – ich füge hinzu, des Friedens und der Freiheit auf der ganzen Welt.
Als der Bundespräsident diese Rede vor zweieinhalb Monaten gehalten hat, glaubte ich trotzdem, dass Neonazis hier in Deutschland nie wieder die Macht übernehmen könnten. Für unvorstellbar kann ich es jetzt nicht mehr halten. Als ob ich in meinem Heimatland Serbien nicht an Grauen genug hätte, beobachtete ich die Entwicklung hier im Lande, wo das Konzentrationslager Buchenwald stand, mit Besorgnis, mit Schrecken. Es ging ja angesichts des Lächerlichmachens und Aushebelns der Demokratie durch rechtsextreme Abgeordnete nicht nur um Thüringen, nicht nur um Deutschland. Ich fürchte, es geht um die Idee und den Bestand der parlamentarischen Demokratie. Alles ist im Wandel. Alles.
Vor fünfzehn Jahren hat Jorge Semprun im Nationaltheater in Weimar in seiner Rede aus Anlass des Befreiungstages unter anderem gesagt, dass diese Feier wohl die letzte Begegnung dieser Art mit Überlebenden sei, und er fügte hinzu – ich zitiere – „Es wird keine unmittelbare Erinnerung mehr geben, kein direktes Zeugnis, kein lebendiges Gedächtnis, das Erlebnis jenes Todes wird zu Ende gegangen sein“. Er hat sich geirrt. Nach weiteren fünf Jahren hat er auf dem Ettersberg, auf dem ehemaligen Appellplatz des Lagers wieder eine große, berührende Rede gehalten. Und auch dieses Jahr wären noch einige von uns überlebenden Buchenwaldhäftingen nach Weimar gekommen, wenn uns nicht eine höhere Gewalt - das Virus, das beweist, wie ohnmächtig auch der moderne Mensch vor der Natur ist - daran gehindert hätte.
Für einige von uns ehemaligen Häftlingen wäre diese Begegnung aus Anlass des 75. Jahrestag der Befreiung der Abschied von der Gedenkstätte geworden. In absehbarer Zeit sicher für alle. Es kommt nicht darauf an, was wir, die man Zeitzeugen nennt, denken und wollen. Es kommt einzigallein darauf an, an was sich unsere Enkel- und Urenkelkinder erinnern und welche Lehren sie ziehen wollen.
Im Rahmen des Gedenkens an den Holocaust ist immer wieder betont worden, wie wichtig es sei Minderheiten zu schützen. Gemeint waren damit meist die Juden. Allmählich begriff man aber, dass z. B. auch Sinti und Roma, die keinen Rückhalt wie den Staat Israel haben, ebenfalls betroffen waren und vielerorts noch betroffen, diskriminiert und geächtet sind. Tatsächlich breitet sich der Antisemitismus wieder aus. Man darf ihn freilich meiner Meinung nach nicht mit der oft berechtigten Kritik an der Regierung in Jerusalem gleichsetzen. Gerade ich als Jude möchte betonen, dass wir nicht die einzige Minderheit sind, die respektiert und beschützt werden muss. In Israel sind es die Palästinenser. Und hier in Deutschland, wie in anderen Ländern, sind es jetzt auch die Flüchtlinge. Ich bitte sie inständig, schenken sie alle ihre Empathie denjenigen, die heute verfolgt werden, fliehen müssen, an Grenzen geschunden werden, in Lagern hungern und darben, im Meer ertrinken. Sagen Sie nicht, dass seien andere Umstände, andere Lager, diese Menschen hätten andere Gründe vor Gefahren zu fliehen, hätten unlogische, unrealistische Träume von Paradiesen in Deutschland, in Schweden oder wo auch immer. Suchen sie keine Begründungen, keine Ausflüchte beiseite zu schauen, mit den Achseln zu zucken, das Leid dieser Menschen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Das bitte ich Sie auch, weil ich die Schoa erlebt und erfahren habe.
Abschied von Buchenwald nimmt auch ein Mensch, der mehr als ein Vierteljahrhundert die Gestaltung dieser Gedenkstätte wie kein anderer geprägt hat, Abschied von Buchenwald nimmt Volkhard Knigge. Die Gemeinschaft, die auch weiterhin hier die Fahne hochhalten wird, nimmt Abschied von ihm. Energische, tätige, ideenreiche Menschen müssen mitunter anecken, müssen Ungerechtigkeiten erdulden, manchmal Fehler machen. Und Volkhard Knigge ist energisch, unermüdlich tätig, ideenreich. Er hat sich auch Feinde gemacht. Aus meiner Sicht ehrt ihn das. Die Gedenkstätte bleibt in guten Händen. Das garantiert der neue Direktor, aber auch, dass der unermüdliche, unersetzbare Philipp Neumann-Thein dableibt. Ich glaube, ich darf im Namen aller ehemaligen Häftlinge sagen, ihnen und natürlich allen bisherigen und neuen Mitarbeitern wünsche ich Erfolg.
Und dann, ja, dann wollte ich noch einmal nach Weimar, wollte dort noch einmal sprechen und mich dort auf diese Weise selbst verabschieden. Das wollte ich bereits vor fünf Jahren, konnte es aber nicht. Denn an dem Tage, als ich hier sein sollte, am 11. April 2015, ist meine Frau Dragana gestorben. Meine Rede für den damaligen Gedenkakt im Nationaltheater hatte ich bereits geschrieben. Volkhard Knigge hat sie verlesen.
Buchenwald, Weimar - auf Wiedersehen wage ich mit 91 Jahren nicht mehr zu sagen. Aus der Ferne sage ich Adieu.
Der Tod sei vergessen!
Es lebe das Leben!
Ivan Ivanji
Belgrad